Das Schicksal von Vineta
Von Reinhard Staubach

Vor etlichen Jahrzehnten übernachtete ich auf Usedom in einem Hotel mit dem Namen Vineta. Aus den Hotelinformationen und später auch aus anderen Quellen informierte ich mich über den Ursprung des Hotelnamens. Demnach war Vineta einst eine sehr reiche Stadt, die vor langer Zeit durch einen Sturm in der Ostsee versank. Ob es die Stadt wirklich einmal gab, konnten Archäologen bisher nicht beweisen. Einige Forscher vermuten sie in der Ostseeküste vor Usedom, andere vor der Insel Rügen. Es gibt verschiedene Varianten der Sage über Vineta. Im Zentrum schlummert jeweils folgender Inhalt:

Vineta war eine sehr große, schöne und bedeutende Stadt an der Ostseeküste, die mit aller Welt erfolgreich Handel trieb. Die christlichen Einwohner führten ein rechtschaffenes Leben und wurden immer wohlhabender. Sie errichteten majestätische Kirchen und hängten in den Türmen Glocken aus reinem Silber auf. Doch nachdem es allen Bürgern gut und immer besser ging, vergaßen sie die christlichen Tugenden und verfielen in die größten Laster. Drei Monate vor dem Untergang erschien ein Lichtgebilde der Häuser und Türme von Vineta über dem Meer. Die Ältesten der Stadt werteten die Erscheinung als Warnung und rieten den Bürgern, die Stadt zu verlassen. Wenige Wochen später warnte auch eine aus dem Meer aufgetauchte Frau ebenfalls vor dem Untergang der Stadt. Doch die Einwohner beachteten die Mahnungen nicht. Wegen ihres lasterhaften Lebenswandels zog ein mächtiger Sturm auf und die gesamte Stadt versank in der Ostsee, mit allen Gebäuden, Menschen und Tieren.

Doch im versunkenen Vineta ist noch heute merkwürdiges Leben zu beobachten. Bei ruhiger See sieht man auf dem Meeresgrund die Lichter der Stadt, und wer genau hinhört, vernimmt das leise Läuten der silbernen Glocken. Am Ostermorgen, in aller Frühe, sehen Sonntagskinder, wie Vineta mit all ihren Stadtmauern, Kirchen und Häusern als warnendes Schattenbild aus den Fluten der Ostsee auftaucht. – Wehe dem Schiff, das sich Vineta dann nähert. Unweigerlich wird es an den spitzen Felsen der Stadtumrandung zerschellen und keiner der Insassen kann sein Leben retten.

So weit die Sage von Vineta. Mich fasziniert, wie in dem Mythos symbolisch bedeutende christliche Lehren eingebettet sind. Offensichtlich ist, dass Menschen, die göttliche Gebote befolgen, mit Wohlstand gesegnet werden. Verlassen sie das rechtschaffene Leben, so missachten sie Warnungen, werden stolz und hochmütig, worauf eine Bestrafung zwangsläufig folgt, früher oder später.

Doch nachdem die Stadt versunken ist, könne man am Meeresgrund noch immer die Gebäude, deren Lichter und die Einwohner sehen. Auch die silbernen Glocken seien angeblich noch zu hören.

Ich erkenne darin die christliche Lehre, dass die Menschen nach ihrem Tod in einer anderen Welt weiterleben. Dort sind sie nicht untätig und werden sogar belehrt, denn die Glocken in der Sage rufen zum Gottesdienst, auch unter Wasser, also in der anderen Welt. Der Apostel Petrus weist in seinem Brief aus Rom darauf hin, dass Jesus zu den Geistern im Gefängnis ging, jenen, die in ihrem lasterhaften und uneinsichtigen Lebenswandel gefangen waren:

»Denn auch Christus ist einmal um der Sünden willen gestorben, als Gerechter für Ungerechte, um uns zu Gott zu führen, er, der am Fleisch zwar getötet worden ist, aber zum Leben erweckt am Geist. Im Geist ist er auch hingegangen und hat den Geistern im Gefängnis gepredigt, nämlich denen, welche einst ungehorsam gewesen waren ...«²

Warum wird die versunkene Stadt nur am Ostermorgen von am Sonntag Geborenen gesehen? - Ich erkenne darin folgende Symbolik. Wir feiern Ostern, um an Jesu Auferstehung zu erinnern. Symbolisch aufersteht auch die Stadt Vineta aus der Ostsee, aus einer anderen Welt. Aber nicht jeder kann die Erscheinung sehen. Nur die am Sonntag Geborenen können sie sehen. Das sind jene, die sich dem Evangelium zugewendet haben, von neuem geboren (getauft) wurden und sonntags den Gottesdienst besuchen, die Sonntagskinder. Ihnen wird exklusives Wissen offenbart. Indem sie die auftauchende Stadt sehen, erkennen sie klar und deutlich die göttlichen Gebote und deren Bedeutung. Der Ostermorgen, also der Ostersonntag, ist jener Tag, an dem Jesus auferstanden ist. Wer sich jenem Jesus zuwendet, sieht und erfährt Dinge, die anderen verborgen bleiben.

Zum Schluss der Sage gibt es dann noch eine Warnung an alle Seefahrer. Nämlich, wenn ihr euch der Stadt Vineta nähert, was bedeutet, indem ihr die Lebensweise jener Bürger annehmt, dann seid ihr verloren. Das gilt vermutlich nicht nur für Seeleute.


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¹ Vineta
² 1. Petrus 3:18-20



      

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Als sich aber sein Herz
überhob
und er stolz
und hochmütig wurde,
da wurde er vom
königlichen Thron gestoßen
und verlor seine Ehre.

Daniel 5:20


      

© Copyright by Reinhard Staubach - Aktualisiert: Samstag, 18-Feb-2023