Der Stein
Von Reinhard Staubach

Bei öffentlichen Lesungen trage ich gelegentlich ein fünfzeiliges Gedicht vor. Doch bevor ich das lyrische Werk rezitiere, erzähle ich den Zuhörern, wie ich auf die Idee zu den Zeilen gekommen bin. Das klingt dann etwa wie folgt:

Vor vielen Jahren reiste ich nach Israel¹, um Land und Leute kennenzulernen. Eines Tages hielt unser Bus in einer hügeligen Landschaft zwischen von Sträuchern umgebenen Feldern. Der Reiseleiter führte uns ein kurzes Stück auf einen Feldweg und verkündete dann: »Wir befinden uns hier im Terebinthental. Hier fand wahrscheinlich der berühmte Kampf David gegen Goliat statt.«

Die Geschichte steht in der Bibel². Die Philister zogen mit ihren Truppen zum Kampf gegen die Israeliten. Im Terebinthental lagerten sie an gegenüberliegenden Bergen. Der Reiseleiter deutete mit ausgestrecktem Arm auf zwei Hügel, auf denen er vermutete, wo sich die Truppen damals gelagert haben könnten.

Ich stellte mir die Situation bildlich vor und sah wie Goliat mit schweren Schritten in bronzener Rüstung, einem gewaltigen Schild und blitzendem Schwert ins Tal marschierte. Er war ein riesiger Kerl, mindestens doppelt so groß als ich, wenn nicht noch größer. Er brüllte zu den Israeliten hinüber: »He, ihr Feiglinge, warum seid ihr hier und traut euch nicht, uns anzugreifen? Schickt euren besten Mann zu mir ins Tal. Wenn der mich besiegt geben wir uns geschlagen. Wenn ich ihn jedoch töte, dann seid ihr unsere Sklaven und alles was euch gehört, gehört dann uns. Alles klar! Überlegt es euch, ihr Memmen. Ihr könnt euch ja nur einen Gott leisten. Der hat sogar vor mir angst. Ich komm morgen wieder!«

Vermutlich gebrauchte Goliat wesentlich ordinärere Kraftausdrücke, um die israelitischen Kämpfer zu beleidigen. Die waren vom Truppenaufgebot der Philister eingeschüchtert und verzweifelt, weil sie keinen Mann in ihren Reihen hatten, der annähernd so groß und kräftig war wie Goliat. – Da kam der kleine David pfeifend daher, um seine drei Brüder in der israelischen Truppe zu besuchen und ihnen frische Verpflegung vom Vater zu bringen.

»He, bist du wohl leise«, wurde er von seinen Brüdern möglicherweise zurechtgewiesen. »Schau mal da, Goliat. Der will gegen einen von uns kämpfen. Aber keiner traut sich.«
»Null Problemo«, hätte David vermutlich in heutiger Sprache geantwortet. »Ich erledige das für euch.«
»Bist du wahnsinnig, du hast doch gar keine Kampferfahrung.«
»Den Goliat leg ich mit links um«, erwiderte David. »Der verhöhnt ja unseren Gott. Solche Typen kann ich nicht ausstehen. Ihr werdet sehen. Morgen.«

König Saul hörte von Davids vorhaben und ließ ihn kommen: »Du bist zu jung und unerfahren. Du kannst nicht gegen Goliat antreten.«
David antwortete dem König: »Ich habe die Schafe meines Vaters gehütet und Bären und Löwen getötet, die in die Herde eingefallen waren. Mit der Kraft Gottes kann ich auch jenen Lästerer besiegen.«
»Okay, der Herr sei mit dir«, stimmte König Saul schweren Herzens zu. »Hier zieh meine Rüstung an. Es ist die beste in unserem Heer. Setzt den bronzenen Helm auf und nimm mein Schwert.«
In nullkommanull Minuten wurde der kleine David in die Rüstung gesteckt. Er versuchte zu gehen, kam aber nicht von der Stelle. »Lasst mich sofort wieder hier raus!«, schimpfte er. Als das geschehen war, nahm er seinen Stock und suchte fünf glatte Steine im Bach, die er in seine Hirtentasche steckte. Mit der Schleuder in der Hand ging er auf Goliat zu.

»Bin ich denn ein Hund!«, brüllte der Philister David an, »dass du mit einem Stock zu mir kommst. Ich verfluche dich im Namen meiner Götter!«
David antwortete ihm, dass er ihn heute töten und seinen Kopf abschlagen werde. Denn heute solle alle Welt erkennen, dass Israel einen mächtigen Gott habe. Er griff in seine Tasche, legte einen Stein in die Schleuder und traf Goliat an der Stirn, der tot zu Boden stürzte. Mit Goliats Schwert schlug David ihm den Kopf ab. Darauf hin floh die Truppe der Philister. Die Israeliten verfolgten sie, töteten viele und plünderten deren Lager.

Die Geschichte wird gerne erzählt, um zu verdeutlichen, dass nicht immer der am mächtigsten vermutete als Sieger aus einem Kampf hervorgeht. Wie schon gesagt, ich war in jenem Tal und schaute mich ein wenig um. Zur Erinnerung hob ich einen kleinen Stein auf und steckte ihn in meine Tasche. Mit den Worten. »Hier ist er«, zeige ich den Anwesenden den Stein. »Wenn man genau hinschaut, sieht man die winzigen Einsprenkelungen, die wie getrocknetes Blut aussehen. Wer weiß, vielleicht ist das der Stein, mit dem Goliat getötet wurde.« Auf meine Schlussfolgerung ernte ich gewöhnlich stilles Schmunzeln bis heiteres Gelächter.

»Aber nun wird es ernst«, behaupte ich. »Denn ich habe nicht nur den Stein mitgebracht, sondern auch eine Schleuder.« (Siehe Foto) Ich zeige sie den Zuhörern. »Der Händler in Israel versicherte mir mit ernster Mine«, berichte ich weiter, »dass David genau so eine Schleuder verwendete. Und er zeigte mir, wie man damit umgeht. Das will ich Ihnen nun auch zeigen. Ich bin jetzt also David. Wer macht den Goliat?« – Gespannt verfolgt das Publikum meine Demonstration.

(Applaus!)

Und nun kommt das kleine Gedicht, zu dem mich die Reise nach Israel, der Aufenthalt im Terebinthental und die biblische Geschichte inspirierten:

Ein glatter Kieselstein sprach zum Gestirn:
»Ich nütze nichts, hab nicht einmal ein Spatzenhirn.«
     Es haucht die Ewigkeit:
     »Obacht, es kommt deine Zeit.«
Der Stein flog tags darauf in Goliats Gehirn.³

(Applaus!)

 

Auf meinem YouTube-Kanal präsentiere ich das Gedicht mit sechs Bildern: https://www.youtube.com/watch?v=rYKLSdzLsWc

Oder hier:
https://www.youtube.com/channel/UCUTRJboaLujb-dndrBVUZDQ/videos

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¹ Israel
² David und Goliat
³ Aus »Ein Kiesel zum Verlieben«, S. 50

 



      

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Der HERR,
der mich aus der Gewalt
des Löwen und des Bären
gerettet hat, wird mich auch
aus der Gewalt
dieses Philisters retten.

1. Samuel 17:37


      

© Copyright by Reinhard Staubach - Aktualisiert: Donnerstag, 27-Jul-2023