Einführung:
Studienrat Karl Schmidt zweifelt an seinen Sinnen, als
ihm ein sprechender Rabe zufliegt. Denn der Vogel berichtet
von den bisher unbekannten, komischen und besinnlichen
Ereignissen in der Arche, die Noah einst gebaut hatte,
um die Sintflut zu überleben.
Guten
Tag, sagte der Vogel, nachdem er sich lautlos
auf die Rückenlehne der Bank für erschöpfte
Wanderer gesetzt hatte. Ich saß schon mindestens
eine halbe Stunde auf derselben Bank, aber nicht auf
der Lehne. Ungestört und verträumt hatte ich
mich der frischen Bergluft hingegeben. Weil der urige
Typ von hinten angeflogen war, hatte ich ihn nicht kommen
sehen, zuckte ein wenig zusammen und antwortete: Guten
Tag.
Erst als ich den Gruß
ausgesprochen hatte, wurde mir bewusst, dass ich einem
Vogel geantwortet hatte. Ein pechschwarzer Rabe saß
neben mir, nur eine Armlänge entfernt. Der Vogel
war groß, ein echter Kolkrabe. Ich sah mich um.
Wo war sein Herrchen oder Frauchen?
Ich bin allein,
sagte der Rabe in klarem Hochdeutsch, offenbar meine
Überlegung erahnend.
Können Raben in den österreichischen
Alpen Gedanken lesen? Welch absurde Idee suchte mich
da heim? Wo der wohl ausgebüchst war? Wie auch
immer. Man hatte ihm ein paar passende Sätze beigebracht.
Aha, mehr fiel mir auf seine Aussage, dass
er allein sei, nicht ein.
Ich habe dich schon einige
Zeit beobachtet, fuhr der Rabe fort. Du
bist der richtige Kandidat.
Kandidat? Wofür?
Dem ich meine Geschichte
erzählen kann.
Interessant. Dann erzähl
mal. Hatte ich dem Vogel ernsthaft geantwortet?
Sprach der wirklich mit mir? Wo steckten die versteckten
Kameras? Hier oben in fast 2000 Metern über dem
Meeresspiegel standen im Montafon keine Bäume mehr,
nur niedrige Büsche. Und die meisten waren weit
weg. Sonst nur Gras, Wildblumen, Heidelbeersträucher
und irgend ein anderes Gestrüpp, nicht einmal kniehoch.
Wie zufällig rieb ich mir die Augen und sah mich
um, erst mit dem linken, dann mit dem rechten Auge blinzelnd.
Letztendlich beide weit geöffnet. Nichts Verdächtiges
weit und breit. Die Typen mussten sich meisterhaft getarnt
haben. Vermutlich war der Felsen dort drüben nicht
aus Stein, sondern aus Pappmaché mit einem Kameramann
darin. Oder schwebte gar eine Drohne über uns?
Ich blickte gen Himmel. Alles blau, nur in der Ferne
einige friedliche Wolken.
Da sind keine Kameras.
Habe ich längst gecheckt.
Las der Rabe wahrhaftig meine Gedanken? Seine Stimme
reichte ihm offenbar nicht, um mich zu verunsichern.
Hatte ich zu wenig getrunken und tanzten nun meine Sinne
Samba?
Entschuldigung, ich habe
mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Suvork. So hat
Noah mich getauft. Ich verbessere, nicht praktisch getauft,
sondern genannt. Einfach Suvork.
Ich sah mir den Vogel etwas
genauer an. Es war keine gewöhnlich Krähe,
wie man sie gelegentlich in den Alpen beobachtet. Suvork
war bedeutend größer. Später sah ich,
dass die Spannweite seiner Flügel über einen
Meter betrug. Er brachte deutlich mehr als ein Kilo
auf die Waage und war etwa einen halben Meter lang,
wenn ich die Schwanzfedern abrechnete. Sein schwarzes
Federkleid glänzte im Sonnenlicht metallisch violett.
Ebenso der riesige Schnabel, die Beine und die Krallen,
alles pechschwarz. Aus seinen Augen mit der dunkelen
Iris musterte er mich. Ein echter Kolkrabe saß
neben mir, wie man ihn selten in der freien Natur antrifft.
Gezähmt, klarer Fall. Ich beruhigte mich wieder
und vertraute meinen Sinnen.
Noah hat dich also Suvork
genannt. Wo wohnt denn dieser Noah?
Bei Gott, kam die
kurze Antwort.
Er ist also gestorben
und seine Erben wussten nichts mit dir anzufangen. Da
bist du wohl auf und davon. Wie alt bist du?
Über 6000 Jahre.
Aber nachdem ich mich vorgestellt habe, solltest du
dich auch vorstellen. Das gebietet die Höflichkeit.
Verdammt, der Vogel kannte sich
aus. Ich entschuldigte mich: Karl Schmidt, Studienrat
im Ruhestand. Zufrieden hob er den Kopf. Dabei
zeichneten sich die etwas längeren Federn an der
Kehle deutlich ab.
Du bist jetzt aber Schriftsteller,
sagte er sachlich, als handle es sich um die Farbe meiner
blauen Augen.
Wie kommst du darauf?
Denn dass ich schreibe, hatte ich nicht erwähnt.
Das musste ihm jemand gesteckt haben.
Du hast die Aura eines
Schriftstellers.
Du kannst meine Aura sehen?
Ja, das lernte ich in
den letzten Jahrtausenden. Ich bin zwar unsterblich,
kann aber getötet werden. Deshalb ist es wichtig,
schon von weitem zu erkennen, ob ein Mensch von einer
guten oder einer finsteren Aura umgeben ist. Und mit
der Zeit lernte ich dann auch die einzelnen Berufsgruppen
erkennen. Du bist ein gutmütiger und friedliebender
Autor.
Beruhigend. Doch ich hatte seine
Altersangabe nicht vergessen.
Über 6000 Jahre?
Da sind in deiner Kalkulation deutlich ein paar Nullen
zuviel eingeflossen? Du meinst offenbar, ich sei ein
alter Mann. Der checkt das nicht mehr. Über 6000
Jahre, ich bitte dich. So alt wird kein Rabe.
Ich bin ja auch nicht
irgendein Rabe. Ich bin der Rabe aus der Bibel. Im Buch
der Bücher steht herzlich wenig über mich.
Immerhin wurde ich kurz erwähnt: Nach vierzig
Tagen öffnete Noach das Fenster der Arche, das
er gemacht hatte, und ließ einen Raben hinaus.
Der flog aus und ein, bis das Wasser auf der Erde vertrocknet
war. Genesis 8:6-7.
Der Gefiederte kannte die Bibel?
Das wurde ja immer verrückter. Aus der Bibel,
wiederholte ich trocken.
Ja, kennst du die Geschichte
von der Sintflut? Klar kennst du die. Wer kennt die
nicht. Als Noah wissen wollte, ob die große Flut
sich zurückgezogen hatte, ließ er mich nachschauen.
Ich drehte ein paar Runden. Wasser, nichts als Wasser.
Leider wurde nicht viel über die Flut in der Bibel
geschrieben, schlicht und ergreifend vier Kapitel. Das
macht gedruckt in vielen Bibeln gerade mal drei Seiten.
Genesis 6-9.
Ja, ich kenne die Geschichte.
Aber dass Noahs Rabe sprechen konnte und einen Namen
hatte, ist mir neu.
Mein Name wurde leider
nicht in der Bibel verzeichnet. Ursprünglich schrieb
Noah auch meinen Namen auf und dass er mir das Sprechen
beibrachte. Spätere Abschreiber seines Berichts
kürzten heftig und strichen die Information über
meine Fähigkeiten. Und nicht nur das. Ich war stets
an Noahs Seite und habe alles mitbekommen, die Zeit
vor dem Bau der Arche und was darin geschah.
Und du lebst seit der
Sintflut? Schön, du willst mich also auf den Arm
nehmen.
Nein. Keineswegs. Noah
war so zufrieden mit meinem Dienst, dass er mich segnete.
Und in dem Segen verhieß er mir, dass ich so lange
auf der Erde leben dürfe, wie ich wolle.
Was für einen Dienst?
Ich flog täglich
durch alle Abteilungen der Arche und berichtete ihm,
wo er nach dem Rechten sehen müsse.
Misstrauisch schaute ich den Raben an. Unmöglich,
das konnte doch nicht wahr sein. Wer hatte ihm die haarsträubende
Geschichte beigebracht?
In der Bibel steht nichts
von einem sprechenden Raben, wandte ich ein.
Wie ich schon sagte, in
der Bibel steht längst nicht alles, erwiderte
er knapp. Aber wenn du nicht an meiner Geschichte
interessiert bist, suche ich einen anderen Gesprächspartner.
Nun sei nicht gleich beleidigt.
Deine Andeutungen sind so sagenhaft, dass ich das erst
einmal verkraften muss. Ich bin nicht so naiv, dass
ich alles glaube, was man mir sagt.
Ich weiß, es gibt
unzählige falsche Informationen. Darf ich dich
zu Hause besuchen? Das ist hier kein Ort für lange
Geschichten.
Ich wohne aber nicht hier
in Österreich.
Das habe ich mir gedacht.
Deine Sprache, sauberes Hochdeutsch. Wohnst du weit
von hier?
Mit dem Auto etwa zwei
Stunden.
Kein Problem. Wie ist
die Adresse?
Ich sagte dem Raben meinen Wohnort,
die Straße und die Hausnummer und wunderte mich,
dass er nicht nach dem Weg fragte.
Das ist in der Nähe
des Federsees. Dort war ich schon mehrmals. Mein Horst
ist auch nicht weit von dort entfernt. Ich hatte heute
Lust, in die Berge zu fliegen, wo ich lange lebte. Dann
bis morgen. Etwa gegen 19 Uhr. Ist das okay?
Ja, bestens. Da sind wir
ungestört. Ich bin Witwer und wohne gegenwärtig
allein.
Dachte ich mir.
Woher wusste er dass? Ich hatte
es bei der Vorstellung nicht geäußert. Ob
er das in meiner Aura sah? Der Rabe breitete
seine Flügel aus und flog davon. Zunächst
schwebte er ins Tal vor uns. Dann schwenkte er nach
links und aus meinem Blickfeld.
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