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Die Höhle
aus

Einführung:
Herr Tiedemann, ein Tourist aus dem Norden, hat eine unbekannte Höhle in der Nähe von Kegelbergen entdeckt. Der Stadthistoriker Karl Müller besichtigt den unterirdischen Hohlraum und berichtet im Stadtrat davon. Es entsteht eine lebhafte Diskussion darüber, wie die Höhle genannt und wie sie genutzt werden soll. Nachdem Gerüchte die Runde machen, in der Höhle radioaktiven Abfall aus Atomkraftwerken zu lagern, kommt es zu Demonstrationen und Gewalttaten in der beschaulichen Kleinstadt im Hegau.

 

     Aufmerksam und fast andächtig hatten alle Stadtratsmitglieder dem Bericht von Karl Müller gelauscht.
     »Gibt es Fragen an Karl?«, brach der Bürgermeister das Schweigen.
     Sogleich kam Leben in den Sitzungssaal.
     »Wenn ich es recht verstanden habe«, sagte Frau Knörle, die Leiterin des Touristikbüros, »dann befindet sich die Höhle auf unserem Stadtgebiet. Wir können also anordnen, was damit zu geschehen hat.«
     »Ja«, antwortete der Bürgermeister, »Grund oder Boden über der Höhle gehören der Stadt Kegelbergen. Wenn es sich geologisch jedoch um einen einzigartigen Hohlraum handelt, könnte ich mir vorstellen, dass man auf höherer Ebene, sprich Landes- wenn nicht sogar Bundesebene, ein Mitspracherecht hat. Ich hatte noch nicht die Zeit, mich diesbezüglich schlauzumachen. Wie groß war die Höhle, ich meine der sogenannte Dom.«
     »In Metern kann ich das nicht sagen«, begann Karl Müller, der Stadthistoriker. »Mindestens so lang wie der Innenraum unserer Stadtkirche. Aber wesentlich breiter. Wahrscheinlich so breit wie lang. In der Höhe«, er machte eine Pause und wiegte seinen Kopf, »ja, vermutlich etwas höher als das Kirchenschiff. Vielleicht auch weniger. Die Wände bildeten leichte Bogen, wie bei alten Kellergewölben. Bis auf die eine Wand, die war fast völlig glatt von oben bis unten.«
     Ein Raunen ging durch den Sitzungssaal.
     »Das ist gewaltig«, betonte der Bürgermeister, der sich bereits zuvor von den Ausmaßen der Höhle berichten ließ. Die Stadträte nickten zustimmend.
     »Aber nehmen wir mal an, Land und Bund sind nicht interessiert«, nahm Frau Knörle das Gespräch wieder auf. »Dann sollten wir entscheiden, was mit der Höhle zu geschehen hat. Ich schlage vor, dass wir den Zugang zum sogenannten Dom für Besucher ausbauen und daraus eine Touristenattraktion machen.« Sie projizierte mit dem ausgestreckten Arm und der offenen Hand ein imaginäres Schild in den Sitzungssaal und verkündete gleichzeitig: »Die Höhle von Kegelbergen!«
     Ihre grünen Augen leuchteten auf, als sie fortfuhr.
     »Das wäre ein Magnet für unsere Stadt. Touristen würden herbeiströmen, unsere lahmende Gastronomie beleben und der Wirtschaft im Allgemeinen einen kräftigen Aufschub geben.«
     Frau Knörles Begeisterung wurde gedämpft, als sich der Wirt des Kappenheimers mit einer sachlichen Frage an den Stadthistoriker wandte.
     »Wie groß sind die Stalaktiten und Stalagmiten, also die Tropfsteine, in der Höhle?«
     Alle Augenpaare schauten zum Wirt. Dass der sich mit Höhlen und Topfsteinen auskennt, hatte offenbar niemand erwartet.
     »Da muss ich sie enttäuschen«, antwortete Karl Müller. »Ich habe nicht einen einzigen Tropfstein in der Höhle gesehen. Es war trocken in der Höhle und warm. Je tiefer wir vordrangen, umso wärmer wurde es, aber angenehm, nicht heiß. Außerdem weise ich darauf hin, dass der Entdecker, Herr Tiedemann, Anspruch darauf erhebt, dass die Höhle nach ihm benannt wird: Die Tiedemann-Höhle.«
     »Aber sie gehört ihm doch gar nicht«, entrüstete sich die stellvertretende Bürgermeisterin Frau Wendt.
     »Das mag schon sein«, gab der Stadthistoriker zu bedenken. »Zum Vergleich. In vielen Orten gibt es eine Marienkirche, obwohl sie nicht der heiligen Maria gehört, das Gebäude auch nicht von ihr errichtet wurde und sie dort niemals zu Besuch war. Man könnte die Höhle also durchaus zum Gedenken an den Entdecker, die Tiedemann-Höhle nennen.«
     Frau Wendts stimme erklang darauf in einer höheren Oktave: »Das ist doch nicht dasselbe. Der Tiedemann ist doch kein Heiliger. Ich bitte Sie.«
     »Vertagen wir mal die Benennung der neuen Höhle«, sagte Bürgermeister Wächter sachlich und legte seine Hand beruhigend auf Frau Wendts Unterarm neben sich. »Mich interessiert, was es wirklich in der Höhle zu sehen gibt.«
     »Eigentlich nichts«, sagte der Stadthistoriker. »Ich habe nur schroffes graues bis schwarzes Gestein gesehen und nehme an, dass es Basalt war.«
     »Aber da gibt es doch sicher etliche Gesteinsgrüppchen«, schaltete sich Frau Knörle ein. »Wenn man die geschickt anstrahlt, dann sieht man vielleicht Schneewittchen und die sieben Zwerge oder einen Drachen. Das muss jemand mit Fantasie erkunden.«
     »Gab es farbige Stellen im Gestein?«, fragte Erhard Wiese, der Bauunternehmer.
     »Nein, wieso?«, antwortete der Stadthistoriker.
     »Wenn es braune oder grüne Bereiche gegeben hätte, könnte man auf Eisenerz oder Kupfervorkommen schließen.«
     »Nein«, sagte Karl Müller erneut. »Aber wir hatten nur einfache Taschenlampen dabei und haben auch nicht alle Winkel ausgeleuchtet.«
     »Haben Sie Fledermäuse gesehen?«, fragte Bettina Schuhmacher von den Grünen. »Fledermäuse müssen geschützt werden. Die dürfen nicht einfach so vertrieben werden.«
     Der Stadthistoriker schüttelte den Kopf: »Nein, ich habe weder Fledermäuse noch sonstige Tiere gesehen. Möchte aber nicht ausschließen, dass es in der Höhle irgendwelche Bewohner gab. Einmal hatte ich den Eindruck, dass eine Spinne über den Boden lief, bin mir aber nicht sicher.«
     »Wie war die Luft?«, fragte Bürgermeister Wächter.
Karl Müller dachte einen Augenblick nach. »Ja, wie war die Luft? Also es roch nicht unangenehm, auch nicht moderig. Aber nicht so frisch wie im Wald. Eventuell gibt es noch andere Zugänge, Spalten oder Löcher, durch die frische Luft einströmt.«
     »Wenn es in der Höhle so trocken ist«, sagte der Bauunternehmer, »dann ist das doch ein idealer Lagerraum.«
     Frau Knörle riss den Mund auf, doch der Historiker kam ihr zuvor.
     »Ja, daran habe ich auch schon gedacht. In der Höhle könnte man ein Archiv einrichten. Dort wären die historischen Dokumente wahrscheinlich atombombensicher. So etwas gibt es schon an anderer Stelle im Lande. Warum nicht auch bei uns.«
     »Die Höhle als verstaubtes Archiv einzurichten!«, empörte sich Frau Knörle. »Ich bitte Sie! Da haben wir die einzigartige Möglichkeit, unser Städtchen um eine Attraktion zu bereichern, und Herr Wiese will dort Steine oder Zement einlagern und Herr Müller sein Antiquariat unterbringen. Also nein. Ich bin entsetzt.«
     »Ich habe nichts von Steinen und Zement gesagt«, konterte Erhard Wiese und hob die geballte Faust, als wolle er sie auf den Tisch schlagen.
     »Aber gedacht«, fauchte Frau Knörle. »Was sonst!«
     Unvermittelt redeten die Stadträte durcheinander und warfen sich allerlei Argumente zur Nutzung der Höhle an den Kopf. Einige wollten sie völlig stillegen und versiegeln, andere praktisch nutzen und ein paar sie für touristische Zwecke ausschlachten.
     Dann geschah, was nur selten vorkam. Bürgermeister Simon Wächter schlug mit der flachen Hand auf den weißen Sitzungstisch, dass es nur so klatschte. Alle Stimmen verstummten und jedes Augenpaar sah zum Stadtoberhaupt.
     »Meine Damen und Herren, wir sollten den Rehbock nicht verteilen, bevor er geschossen ist.« Die Metapher hing zwar quer im Raum, aber alle schienen zu verstehen, was gemeint war. »Bevor wir weitere Entscheidungen treffen, brauchen wir mehr Information. Sind alle damit einverstanden?«
     Allgemeines Kopfnicken.
     »Gut«, fuhr der Bürgermeister fort. »Frau Wendt, darf ich Sie als stellvertretende Bürgermeisterin bitten, Kontakt mit einem geologischen Institut oder wo es Ihnen sinnvoll erscheint, aufzunehmen um herauszufinden, was bei der Erschließung einer Höhle zu beachten ist. Sicherlich will dann ein Fachmann das Objekt besichtigen. Verweisen Sie ihn an Karl. Ich erwarte Ihren ausführlichen Bericht. In der Zwischenzeit möge bitte jeder über eine sinnvolle Nutzung der Höhle nachdenken. Wer einen brauchbaren Vorschlag hat, reiche ihn umgehend bei mir ein, schriftlich! In der nächsten Sitzung werden wir dann ausführlicher die gewonnenen Erkenntnisse und Vorschläge beraten. Gibt es noch Fragen?«
     Alle sahen betreten vor sich ins Leere.
     »Dann schließe ich die Sitzung und wünsche eine gute Nacht!«

*

     Zuhause kochte bei Bürgermeister Wächter der Schlagabtausch um die Höhle noch einmal hoch.
     »Elisabeth«, sagte er zu seiner Frau, »es hätte nicht viel gefehlt und die hätten sich geprügelt.«
     »Worum ging’s denn?«
     »Um das Erdloch.«
     »Um das Erdloch? Du meinst die Höhle?«
     Simon Wächter brummte etwas Unverständliches in seinen Bart, worauf Elisabeth sich verpflichtet fühlte, ihn an sein verantwortungsvolles Amt zu erinnern.
     »Du musst die Stadträte ernst nehmen und darfst die Sache nicht so einfach vom Tisch wischen.«
     »Hab ich auch nicht. Und ich nehme die Bürger von Kegelbergen immer ernst, besonders die Stadträte.«
     »Worum ging es denn genau?« Frau Wächter stellte ihrem Mann seinen heißen Lieblingskräutertee auf den Couchtisch. Den mochte er vor dem zu Bett gehen gerne, weil er dann besser einschlafen konnte.
     »Es ging um die künftige Nutzung der Höhle. Dabei wissen wir überhaupt noch nicht genug über den Hohlraum. Karl hat ihn sich als Einziger bisher angesehen.«
     »Welche Vorschläge wurden diskutiert?«
Simon Wächter nippte an seinem Tee. »Die Gruppe um die Knörle will eine Attraktion daraus machen, damit mehr Touristen angelockt werden. Dabei gibt es in der Höhle nicht einmal Tropfsteine. Die Grünen wollen darin Fledermäuse ansiedeln, falls es die dort noch nicht gibt. Die Herren von der Baubranche wollen vermutlich Baumaterial dort einlagern, weil es dort so schön trocken sei. Karl will sein Archiv in der angeblich atombombensicheren Höhle unterbringen. Und es ging auch darum, wie die Höhle genannt werden soll.«
     Frau Wächter schwieg einen Augenblick. »Also wenn es darin nichts Besonderes zu sehen gibt, ist der Gedanke, etwas einzulagern nicht schlecht. Die Stadt könnte die Höhle vermieten, was der Stadtkasse guttäte.«
     »Peanuts. Als erstes müsste eine Straße zu Höhle gebaut und dann der Zugang zum Dom freigesprengt werden. Ich mag gar nicht daran denken, was das alles kostet.« Simon Wächter lehnte sich zurück, als sei das letzte Wort in der Sache gesprochen.
     »Es sollte halt etwas eingelagert werden, was richtig Geld bringt«, ließ Elisabeth Wächter nicht locker. »Vor ein paar Tagen las ich einen Artikel darüber, dass man in ganz Deutschland verzweifelt nach Endlagern für Atommüll sucht. Der soll ja unterirdisch deponiert werden. Vielleicht ist die Höhle der ideale Lagerplatz. Das wird doch bestimmt gut bezahlt.«
     Herr Wächter sprang auf: »Bist du des Wahnsinns! Atommüll in unserem schönen Hegau. Wie kommst du auf so einen Blödsinn? Alle Touristen würden ausbleiben und die Knörle würde dir persönlich den Hals umdrehen. Lass das bloß keinen hören. Sonst darf ich dich demnächst in der Irrenanstalt besuchen.«

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Fortsetzung im Roman: »Gunda und das strahlende Erbe«
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Leserstimmen:
[Der Roman enthält] »überraschende Wendungen, originelle technische Ideen, autobiografische Elemente (zumindest was die verschiedenen Schauplätze betrifft), die einfühlsame Beschreibung von Gundas Gefühlswelt ... Aus Sicht des Lesers hinterlässt der Schluss Neugier: Wie ergeht es Gunda weiter? Wird sie verdächtigt? Was geschieht mit der Erfindung? Aus der Sicht des Verfassers ist der Schluss genial ... und regt die Fantasie des Lesers an.«
- Walter Haberl, Feb. 2022

 
 

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© Copyright by Reinhard Staubach - Aktualisiert: Donnerstag, 25-Aug-2022