|      »Sag 
                          bloß, du bist wegen dieser irren Demo so schnell 
                          aus Frankreich zurückgekommen?«, redete Wanda 
                          auf ihre Tochter nach der Begrüßung in Kegelbergen 
                          ein.»Ja, wann gibt es 
                          schon mal eine Demo hier? Da muss ich dabei sein.«
 »Das ist doch gefährlich«, 
                          zeterte Wanda. »Lauter Irre wollen durch die Stadt 
                          marschieren. Man kennt das doch aus dem Fernsehen. Da 
                          werden Polizisten angegriffen, Pflastersteine rausgerissen, 
                          Schaufensterscheiben eingeschlagen und Läden geplündert. 
                          Ich mag gar nicht daran denken. Und da willst du hin?« 
                          ...
      Als 
                          Gunda den Marktplatz erreichte, quoll er bereits über. 
                          Und immer noch strömten Leute hin, als würden 
                          dort Goldbarren verschenkt. Sie hatte nicht erwartet, 
                          dass sich schon zwanzig Minuten vor dem offiziellen 
                          Kundgebungsbeginn so viele Menschen um die beste Position 
                          drängeln würden. Mit spitzen Ellenbogen und 
                          energischem Blick wuselte sie sich durch die Menschenmenge. 
                          Irgend jemandem schien sie auch auf den Fuß getreten 
                          zu haben. Den nachgerufenen Fluch beachtete sie nicht. 
                          Warum auch, sie trug keine Schuhe mit Pfennigabsätzen, 
                          sondern platte Sneakers und wog gerade mal 65 Kilogramm. 
                          Der Typ sollte sich nicht so anstellen. Endlich stand 
                          sie in der ersten Reihe seitlich vorm Rednerpult.Frau Bettina Schuhmacher 
                          begrüßte wie am Montag die Menschenmenge. 
                          Diesmal fügte sie mit Tränen in den Augen 
                          hinzu, dass der Kampf gegen den Atommüll schon 
                          ein Todesopfer gefordert habe, ihren Ehemann. Ein Raunen 
                          ging durch den Massenauflauf ...
      Nach 
                          Begrüßung und Ankündigung sprach wieder 
                          der glattrasierte Mann mit den schulterlangen, braunen, 
                          glatten Haaren zur Menge. Er brachte dieselben Argumente 
                          vor, wie schon in seiner Ansprache am Montag. Der Glattrasierte 
                          fasste sich allerdings kürzer und übergab 
                          dann Bürgermeister Simon Wächter den Platz 
                          am Rednerpult.Das Stadtoberhaupt trat 
                          ans Mikrofon und zwinkerte Gunda zu, noch vor seinem 
                          ersten Wort. Offenbar hatte er seine Nichte schon früher 
                          bemerkt. Gunda zwinkerte zurück. Mit ruhiger Stimme 
                          und wohlgesetzten Pausen versicherte der Bürgermeister 
                          dem versammelten Volk, dass er bereits erste Schritte 
                          unternommen habe, um ein Atommüllendlager in Kegelbergen 
                          zu verhindern. Er bedankte sich für die vielen 
                          Unterschriften gegen den Atommüll in der Stadt 
                          und im schönen Hegau. Sogar aus der nahen Schweiz 
                          habe er Unterstützung bekommen.
 »Sind ein paar Schweizer 
                          hier?«, fragte Bürgermeister Wächter 
                          in die Runde blickend.
 »Hier!, hier!«, 
                          erschallte es links neben dem Rednerpult, vier kleine 
                          rote Fahnen mit einem weißen Kreuz in der Mitte 
                          schossen empor und wurden wild geschwenkt. Die Schweizer 
                          erhielten tosenden Applaus von den Versammelten. Gunda 
                          fotografierte die Eidgenossen. Sie standen nicht weit 
                          von ihr, eine johlende kleine Gruppe von etwa sechs 
                          oder sieben jungen Männern und drei Frauen.
 »Mein Vorredner 
                          hat Ihnen, liebe Bürgerinnen und Bürger, deutlich 
                          vor Augen geführt, welche gesundheitlichen Schäden 
                          drohen, wenn der Atommüll einfach so abgestellt 
                          wird wie seinerzeit in der Asse. Ja, heute ist die neue 
                          Höhle auf unserem Stadtgebiet noch trocken und 
                          vermutlich sogar sicher. Aber wie sieht das morgen aus? 
                          Wer kann garantieren, dass sich kein Spalt bildet und 
                          dann Wasser einsickert? Niemand. Nicht auszudenken, 
                          wenn unser gutes Grundwasser plötzlich kontaminiert 
                          ist. Die Herren von der BGE, der Bundesgesellschaft 
                          für Endlagerung sagten mir, dass weitere Messungen 
                          notwendig seien, um zu ermitteln, ob sich die Höhle 
                          als Endlager eigne. Auf jeden Fall sei sie als Zwischenlager 
                          für einige der Fässer mit Atommüll aus 
                          dem Salzbergwerk Asse brauchbar. Wollen wir hier angerostete 
                          Fässer aus der Asse?«
 »Nein!«, schrien 
                          etliche Zuhörer. Und jemand stimmte den Schlachtruf 
                          vom Montag an: »Kein Atommüll hier in Kegelbergen!« 
                          Erst einige wenige, dann immer mehr der Versammelten 
                          auf dem Marktplatz wiederholten: »Kein Atommüll 
                          hier in Kegelbergen!«
 Bürgermeister Wächter 
                          ließ die Rufer kurze Zeit gewähren und hob 
                          dann beide Arme: »Richtig, liebe Bürgerinnen 
                          und Bürger. Wir wollen keinen Atommüll in 
                          unserer schönen Stadt. Auch kein Zwischenlager. 
                          Als man die Fässer in der Asse deponierte, glaubte 
                          man, sie seien dort sicher für die nächsten 
                          tausend Jahre und mehr. Und nun steht fest, die müssen 
                          dort schleunigst raus, um weiteres Unheil zu verhindern. 
                          Die Endlagerbehörde will den Müll gleich neben 
                          der Asse zwischenlagern. Doch es gibt Widerstand aus 
                          der Bevölkerung. Es hat sich eine Asse-Gegner-Gruppe 
                          gebildet, die aufs Schärfste protestiert. Deshalb 
                          sucht man nun bundesweit nach geeigneten Standorten 
                          für das Zwischenlager. Ich bin entschieden dagegen, 
                          hier bei uns ein Zwischenlager für den Atommüll 
                          einzurichten. Und ich werde alles Erdenkliche tun, um 
                          es zu verhindern. Denn wenn der Müll erst einmal 
                          hier ist, kann es Jahrzehnte dauern, bis wir ihn wieder 
                          los sind.«
 »Richtig!«, 
                          brüllte ein Mann aus der Menge. Und sogleich stimmte 
                          wieder jemand den Schlachtruf an: »Kein Atommüll 
                          hier in Kegelbergen.«
 »Und noch etwas 
                          dürfen wir nicht aus den Augen verlieren«, 
                          setzte Bürgermeister Wächter seine Rede fort. 
                          »Was wird mit den örtlichen Gewerbebetrieben 
                          geschehen? Ich kann es euch sagen, ohne ein Prophet 
                          zu sein: Sie werden eingehen! Wie Primeln im Sonnenschein 
                          und ohne Wasser werden sie dahinwelken. Denn niemand 
                          wird hier herziehen, um freigewordene Arbeitsplätze 
                          einzunehmen. Kein neues Unternehmen wird sich hier bei 
                          uns ansiedeln. Die Furcht verstrahlt zu werden wird 
                          jeden davon abhalten hierher zu kommen. Alle werden 
                          einen Bogen um unser schönes Hegau machen. Haben 
                          Sie die Berichte über Tschernobyl im Fernsehen 
                          verfolgt. Das Zeug im Reaktor strahlt immer noch heftig. 
                          Der einst errichtete Schutzschild bringt es nicht mehr. 
                          Ein neuer musste erbaut werden. Können Sie sich 
                          das vorstellen, ein Betongewölbe über Kegelbergen?«
 Nun übertreibt er 
                          aber, dachte Gunda und sah sich um. Blankes Entsetzen 
                          stand in einigen Gesichtern.
 »Ich mag gar nicht 
                          an den Tourismus denken«, setzte Bürgermeister 
                          Wächter seine Rede fort. »Auch wenn keine 
                          Gesundheitsschäden aufgrund des eingelagerten Atommülls 
                          ermittelt werden können. Wird dann noch jemand 
                          zu uns kommen? Wird dann noch jemand hier Urlaub machen? 
                          Die Hotels, Ferienhäuser und Gaststätten können 
                          dicht machen. Das spricht sich doch herum, dass wenige 
                          Meter entfernt strahlender Atommüll lagert.«
 Bürgermeister Wächter 
                          malte die Zukunft mit weiteren Beispielen in dunklen 
                          Farben aus und betonte immer wieder, dass jetzt entschieden 
                          gehandelt werden müsse. Das Volk stimmte ihm erneut 
                          mit Zwischenrufen zu. Nach seiner Ansprache trat noch 
                          einmal der Glattrasierte ans Mikrofon und rief zum Demonstrationszug 
                          durch die Stadt auf: »Folgen Sie bitte dem blauen 
                          Polizeiwagen da drüben.«
 In der Nähe des Polizeiautos 
                          hatten offenbar einige der Demonstrations-Organisatoren 
                          gestanden. Denn gleich nachdem sich das Auto in Richtung 
                          Himmelreichstraße in Bewegung setzte, skandierte 
                          eine kleine Gruppe lautstark: »Kein Atommüll 
                          hier in Kegelbergen!«
 Langsam setzte sich die Volksmenge in Bewegung. Wie 
                          aus dem Nichts erschienen Polizisten links und rechts 
                          der Demonstranten und folgten ihnen durch die enge Hauptstraße 
                          in die Himmelreichstraße hinauf. Etwa fünfzig 
                          Meter nach der Kirche knallte es plötzlich, nicht 
                          besonders laut, aber bis zum Marktplatz hörbar, 
                          wo noch die Hälfte der Volksmenge stand. Die Demonstranten 
                          erstarrten für einen Augenblick.
 »Feuer!«, 
                          kreischte eine Frauenstimme.
 Die Erstarrten schauten 
                          wild umher. Gunda sah eine kleine Qualmwolke über 
                          den Demonstrierenden kurz hinter der Zugspitze wabern. 
                          Menschen hetzten durcheinander und flüchteten sich 
                          in Seitenstraßen. Gunda rannte Richtung Qualm 
                          ...
  
                           _____ Fortsetzung 
                          im Roman: »Gunda 
                          und das strahlende Erbe«Als Taschenbuch und E-Book im Handel.
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